Benzin im Blut: Berufsorientierung für Zugewanderte

„Wenn ich eine Werkstatt hätte, würde ich den sofort nehmen“, so Ausbilder Jürgen Freitag über einen seiner Teilnehmer. Er bereitet die jungen Männer im Rahmen des BOF-Programms auf die Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker vor.

Ausbilder Jürgen Freitag erklärt den BOF Teilnehmern die Nockenwelle.
Ausbilder Jürgen Freitag erklärt den BOF-Teilnehmern die Nockenwelle. © BMBF/BOF - Fotograf: Fulvio Zanettini

Es riecht nach Motorenöl, Reifen, Diesel. Leuchtröhren an der Decke tauchen die Werkstatt in weißes Licht. Jürgen Freitag steht an der Tafel und zeichnet eine Nockenwelle. Vier junge Männer lauschen an diesem kalten und grauen Donnerstagmorgen Mitte Dezember aufmerksam den Ausführungen ihres Ausbilders.

Was auf den ersten Blick nach einer gewöhnlichen Ausbildungssituation in der Kfz-Werkstatt des Bildungs- und Technologiezentrums der Handwerkskammer Leipzig aussieht, ist auf den zweiten nicht ganz so alltäglich.

Freitags Schüler sind keine Kfz-Mechatroniker-Azubis. Aber sie wollen es mal werden. Solaiman Alkhatib, Anwar Bakeir Hussein, Feras Ranko und Talal Al Abdalla, alle aus Syrien, sind Teilnehmer des Programms „Berufsorientierung für Flüchtlinge“ (kurz: BOF) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).
 

Prinzip Versuch und Irrtum

Die Teilnehmer schauen zunächst zu und beobachten, was der Ausbilder macht: „Bei dem hat das geklappt, so versuche ich es auch“, beschreibt Freitag das Vorgehen der jungen Geflüchteten. Freitag geht in seinem Unterricht auf diese Art von Lernen ein und zeigt vieles direkt an Auto und Motor. Dieser Weg ist dank der bemerkenswerten visuellen Aufnahmefähigkeit der Teilnehmer erfolgsversprechend: „Anwar hat gestern, als ich die Ventilspiel-Einstellung erklärt habe, den Motor alleine zusammengesetzt. Wenn ich eine Werkstatt hätte, würde ich den sofort nehmen“, berichtet Freitag fast schon schwärmerisch von den Fähigkeiten des jungen Mannes.

Der Ausbilder und die drei Teilnehmer arbeiten an einer Nockenwelle.
Theoretische Grundlagen werden direkt in der Praxis erprobt. © BMBF/BOF - Fotograf: Fulvio Zanettini

Der Ausbilder weiß aber gleichzeitig um die Bedeutung der theoretischen Grundlagen, die für den Erfolg in der Berufsschule unabdingbar sind. Den Teilnehmern fehle es an Basiswissen in den Naturwissenschaften, insbesondere in der Physik. Das Vermitteln mathematischer und physikalischer Grundlagen lockert Freitag aber immer wieder durch kurze Pausen auf und erklärt beispielsweise Winkelmaße an konkreten Gegenständen.

Anwar Bakeir Hussein ist neben dem ebenfalls 18-jährigen Solaiman Alkhatib der jüngste der Gruppe. Der Syrer kam 2015 mit seinem Bruder und dessen Tochter nach Deutschland und hat in Wurzen, rund 30 Kilometer östlich von Leipzig, ein Berufsvorbereitungsjahr mit einem Hauptschulabschluss abgeschlossen. Die Teilnahme an BOF war trotz des bereits vorhandenen Schulabschlusses wichtig für Hussein. Erst hier konnte er testen, ob der Wunschberuf Kfz-Mechatroniker tatsächlich seinen Vorstellungen entspricht und er für ihn auch geeignet ist. An Autos interessieren ihn vor allem die Elektronik und Mechanik. Auch liest er gerne Autozeitschriften, erzählt der junge Mann in einfachem Deutsch.
 

Erst Praktikum, dann Ausbildung

Wie es der Zufall will, hat Bakeir Hussein am Tag des Interviews ein Vorstellungsgespräch für ein Praktikum im Rahmen des BOF-Programms in einem Kfz-Betrieb in Leipzig. Als er nach zwei Stunden wiederkommt, strahlt er über beide Ohren. „Ich kann dort am 2. Januar 2018 beginnen. Der Chef hat gesagt, wenn ich gut bin, kann ich dort meine Ausbildung machen“, berichtet er sichtlich stolz.

Der erfolgreiche Verlauf des Vorstellungsgesprächs ist auch ein Verdienst von Ahmed Barhdadi. Barhdadi ist bei der Handwerkskammer Leipzig Ansprechpartner für interkulturelle Beratung und auch zuständig für das BOF-Programm. Er kümmert sich intensiv um die Teilnehmer der Maßnahme und schlüpft in Probegesprächen schon mal in die Rolle des Ausbilders im Praktikumsbetrieb.

Auch Feras Ranko hat einen Praktikumsplatz als Teil des BOF-Programms gefunden: Um die Ecke, bei der Opel-Werkstatt in Borsdorf. Mit 24 Jahren ist er der Älteste in der Gruppe. In Syrien hat er zwei Jahre lang Tourismus studiert, aber hier angekommen musste er sich neu orientieren. „Am besten gefallen hat mir, dass wir hier verschiedene Berufe ausprobieren können“, weist Ranko auf einen wichtigen Baustein des BOF-Programms hin.

Dass ein Auto aus vielen einzelnen Teilen zusammengebaut wird und eine kleine Schraube eine große Rolle spielt, macht Ranko am meisten Spaß am Kfz-Bereich. „Man muss bei jedem kleinen Teil nachdenken“, weiß der Syrer. Er ist auch froh, dass die Tage im Bildungszentrum acht Stunden umfassen: „Das finde ich sehr toll. Wir müssen uns an das deutsche System gewöhnen.“
 

Duale Ausbildung: Das unbekannte System

Das deutsche System, das ist die duale Ausbildung in Betrieb und Berufsschule, die in der Regel nach drei Jahren zu einem Berufsabschluss führt. In den Herkunftsländern der Geflüchteten ist dieses System weitestgehend unbekannt und muss daher erklärt werden.

Die BOF-Maßnahme bereitet auf die Ausbildung vor. Für Freitag ist das eine große Herausforderung. Die Teilnehmer können sich im Alltag gut auf Deutsch verständigen, aber mit Fachsprache – Stichwort: Nockenwelle – sieht es schon ganz anders aus. Hinzu kommen geringe Kenntnisse in Mathematik und Physik. „Das räumliche Denken ist bei einigen nicht besonders stark ausgeprägt“, berichtet Freitag. Hier helfen vor allem die 10 Stunden berufsbezogener Fachunterricht pro Woche, der auf die Berufsschule vorbereitet.

Der erfahrene Ausbilder befürchtet, dass die Ansprüche der Ausbildung am Ende noch zu hoch sein könnten „Schulbildung kann man nicht innerhalb kürzester Zeit nachholen.“ Freitag plädiert deshalb für eine stufenweise Qualifizierung. Möglich ist so ein Heranführen an die Ausbildung durch die sogenannte Einstiegsqualifizierung (EQ), die dem eigentlichen Ausbildungsbeginn vorgeschaltet wird.

Auch für Solaiman Alkhatib könnte die Einstiegsqualifizierung das Mittel der Wahl sein. Der 18-Jährige braucht hin und wieder einen kleinen „Schubser“ in die richtige Richtung. „Solaiman ist ein Schelm, wie er im Buche steht“, so erzählt Freitag davon, dass Alkhatib die Trial-and-Error-Methode wenig zielführend auch auf Wissensfragen anwendet.

Der vierte im Bunde ist Talal al Abdalla. Der 20-Jährige kam ebenfalls 2015 über den Balkan nach Deutschland. In Syrien hat er ein halbes Jahr lang als Kfz-Mechaniker gearbeitet und Gefallen an der Arbeit mit Autos gefunden. Freitag erkennt bei al Abdalla ein besonderes Hierarchiedenken: „Er ist fast ängstlich. Der Chef ist der große Herr und Gebieter, der die Schlagzahl vorgibt. Und die hat er zu erfüllen. Der zittert manchmal richtig. Ich sage, Talal, bleib‘ ganz ruhig. Ich bin euer Freund, ich helfe euch.‘“
 

Benzin im Blut

Ein Ausbilder und drei Teilnehmer stehen unter einem Auto.
© BMBF/BOF - Fotograf: Fulvio Zanettini

Freitags Ansatz ist ohnehin sehr pragmatisch. Der Ausbilder steht am Reifen und fragt in die Runde, was man daran ablesen kann. Dann zeigt er, wie man mit einem Reifeninnendruck- und Profiltiefen-Messgerät arbeitet. Danach sind die Teilnehmer an der Reihe. Wenn er theoretische Grundlagen erklärt, dann nie länger als 45 Minuten. „Man muss zwischendurch Pausen einlegen, das geht nicht anders“, ist Freitag überzeugt und froh über die überschaubare Gruppengröße.

Man merkt, dass ihm, der das Renteneintrittsalter eigentlich schon seit zwei Jahren überschritten hat, die Arbeit mit jungen Geflüchteten richtig Spaß macht. „Man muss Benzin und Diesel im Blut haben. Und man muss mit Menschen können. Das sind die Grundvoraussetzungen.“ Nach einer kleinen Pause sagt Freitag dann lachend: „Na ja, es macht einen Heidenspaß. Aber meine Zeit ist abgelaufen.“

Die Zeit von Solaiman Alkhatib, Anwar Bakeir Hussein, Feras Ranko und Talal Al Abdalla fängt dagegen gerade erst an. Dank Jürgen Freitag und Ahmed Barhdadi sind die vier jungen Geflüchteten gut auf ihre berufliche Zukunft in Deutschland vorbereitet.