Potenzialanalyse- und Kompetenzfeststellungsverfahren für Neuzugewanderte
Im Rahmen der Initiative Bildungsketten wurden bereits bestehende Verfahren der Potenzialanalyse und Kompetenzfeststellung für die Zielgruppe der Neuzugewanderten erweitert sowie neue Instrumente für diese Zielgruppe entwickelt.
Diese neuen bzw. neu gestalteten Verfahren zeichnen sich dadurch aus, dass sie den kulturellen Hintergrund der Teilnehmenden und deren unterschiedliche sprachliche Voraussetzungen berücksichtigen.
Spezifische Verfahren für Menschen mit Migrationserfahrung sind wichtig, da ihre Sprachkenntnisse oft noch nicht ausreichen, um ausführliche Beschreibungen in deutscher Sprache zu verstehen oder deren spezielles Vokabular zu begreifen. Solche sprachlichen Barrieren werden deshalb häufig mittels Visualisierung und einfacher Sprache oder intensiveren Erläuterungen überbrückt.
Darüber hinaus ist es sinnvoll, bereits bestehende Verfahren hinsichtlich ihrer Kulturfairness zu überprüfen, denn Gegenstände, Begrifflichkeiten oder Symbole haben nicht in allen Kulturen dieselbe Bedeutung oder Wertigkeit. Besonders die bei Potenzialanalysen beobachteten Kompetenzen entziehen sich einer Objektivität, weil sie – per definitionem – immer vom Kontext und damit auch von der kulturellen Sozialisation abhängig sind. Zum Beispiel wird „Eigeninitiative“ in Deutschland in der Regel als erwünschtes Verhalten angesehen, in anderen Kulturen kann sie jedoch eher negativ bewertet sein. Dadurch kann es vorkommen, dass Menschen, die erst seit kurzer Zeit in Deutschland leben, diese Kompetenz nicht offen zeigen, obwohl sie vorhanden ist.
Ein individuelles, partizipatives Vorgehen, das auch – berufsbezogene - biografische Erfahrungen aufgreift, ist im Berufsorientierungsprozess daher förderlich. Besonders bei der Beobachtung ist es wichtig, dass das Personal interkulturell sensibel geschult ist.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert die Entwicklung und Anpassung sowie Erprobung und Anwendung verschiedener zielgruppenspezifischer Verfahren im Rahmen der Initiative Bildungsketten in mehreren Bundesländern.
Beispiele für handlungsorientierte und computergestützte Verfahren
Handlungsorientierte Verfahren
In handlungsorientierten Verfahren, wie zum Beispiel an Assessment-Center angelehnten Verfahren oder Arbeitsproben, werden Neuzugewanderte bei der Bewältigung von Anforderungssituation nach vorab definierten Kriterien systematisch beobachtet. Es sind praxisnahe Übungen zu wählen, die mit Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler verbunden sind und deren Bereitschaft fördern, sich auf Lernprozesse einzulassen. Auch können Methoden gewählt werden, die die Jugendlichen dazu anregen, sich mit ihren Wünschen und Träumen auseinanderzusetzen, und sie ermutigen, diese in reale Pläne umzusetzen (zum Beispiel aus der Erlebnispädagogik oder dem Sozialtraining). Handlungsorientierte Aufgaben im Berufsorientierungsprogramm müssen nach den Kriterien der systematischen Beobachtung durchgeführt werden.
Profil Match
In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt Produktionsschule Plus in Mecklenburg-Vorpommern findet das Verfahren Profil Match Anwendung.
Profil Match ist ein handlungsorientiertes Potenzialanalyseverfahren, das sich durch eine reduzierte Sprachverwendung für Flüchtlinge aller Altersgruppen eignet. Profil Match wurde vom CJD Offenburg entwickelt und weist Elemente des Profil-AC-Verfahrens auf.
Während die Teilnehmenden Einzel-, Gruppen- oder computerbasierte Aufgaben aus verschiedenen Branchen (zum Beispiel Bautechnik) bearbeiten, gewährt Profil Match Einblicke in die überfachlichen und berufsbezogenen Kompetenzen und Interessen der Teilnehmenden jenseits von Schulbildung und deutsche Sprachkenntnissen. Dabei kann das Verfahren sowohl methodische, personale wie auch soziale Kompetenzen erfassen. Es fördert die Selbstwahrnehmung und das Selbstbewusstsein der Teilnehmenden und ermöglicht eine passgenaue Vermittlung von Praktika sowie Ausbildungs- und Arbeitsstellen.
Der überwiegende Teil der Aufgaben besteht aus durch Personal beobachteten, handlungsorientierten Übungen. Eine Beispielaufgabe ist die Konstruktionsübung „Tunnelbau“, bei dem die Teilnehmenden aus Papier, Knete, Klebeband und Spiegeln drei Tunnel bauen und am Ende einen Lichtstrahl durch die Tunnelkonstruktion senden. Die Aufgabe gilt als gemeistert, wenn der Lichtstrahl durch die Spiegel so um die Kurven geleitet wird, dass dieser am Ende des Tunnels zu sehen ist. Beobachtet werden Fähigkeiten wie Durchhaltevermögen, Kreativität, methodisches Vorgehen oder Problemlösungskompetenz.
Einige Module können am PC durchgeführt werden, wie zum Beispiel ein Berufsinteressenstest und ein Kognitionstest. Die Software ermöglicht einen konkreten Abgleich zwischen den Stärken der Teilnehmenden und dem Bedarf von Unternehmen oder einzelnen typischen Berufsprofilen.
komPASS³
In Niedersachsen wird in den Sprach- und (kurz SPRINT-Klassen) das Verfahren komPASS³ eingesetzt.
komPASS³ wurde aus einem bereits für die Berufsvorbereitung eingesetzten Verfahren, nämlich der sogenannten TalentWerkstatt des Hannoverschen Berufsorientierungszentrums „Werk-statt-Schule“, abgewandelt. Das Ausgangsverfahren wurde auf drei Tage verkürzt, um den organisatorischen Anforderungen einer Umsetzung an Schulen Rechnung zu tragen.
komPASS³ – Kompetenzcheck und Ausbildungsperspektiven für jugendliche Sprachanfänger soll unabhängig von sprachlichen Niveaus eine Grundvoraussetzung der Kompetenzfeststellung erfüllen:
die gleichberechtigte Teilnahme aller am Verfahren im Sinne eines Diversity Management. Wichtiges Qualitätskriterium ist dabei die kulturelle Fairness bei allen Grafiken und Zeichnungen. Dazu werden beispielsweise Arbeitsanleitungen, Tests und Abschlussprofile weitgehend nonverbal über Icons, Piktogramme und Symbole verständlich gemacht, die kulturelle und geschlechtliche Vielfalt berücksichtigen.
Bei komPASS³ durchlaufen die Teilnehmenden an drei Tagen Arbeitsproben, Lernprojekte und Tests, die durch geschulte Multiplikatorinnen und Multiplikatoren beobachtet werden. komPASS³ ist ein handlungsorientiertes Kompetenzfeststellungverfahren mit hohem berufspraktischem Bezug. Es basiert auf dem Programm Ich schaff’s von Ben Furman, ist ausschließlich stärkenorientiert und soll bestehende Interessen und Fähigkeiten der Jugendlichen deutlich machen. So wird Wert auf viele gemeinsame Aktivitäten in Gruppen- und Teamarbeit gelegt. Dies soll das Selbstvertrauen der Teilnehmenden stärken und ihnen helfen, sich ihrer Potenziale bewusst zu werden.
Am letzten Tag der Kompetenzfeststellung mündet das Verfahren in eine Visionsentwicklung und ein Gespräch zu beruflichen Zielen. So entsteht für alle Teilnehmenden ein berufliches Kompetenzprofil, das die Suche und den Übergang in Praktika und Ausbildung erleichtern soll.
Die Ergebnisse geben Aufschluss darüber, welche beruflichen Fachrichtungen in SPRINT-Dual (2. Jahr im SPINT-Projekt: Jugendliche absolvieren einen Teil in der berufsbildenden Schule und einen größeren Teil im Betrieb) am besten zu den Jugendlichen passen, und liefern den Lehrkräften Hinweise, wie die Jugendlichen individuell gefördert werden können. Das Verfahren ermöglicht es den Beobachtenden, einen unvoreingenommenen Blick im Sinne einer „kontrollierten Subjektivität“ einzunehmen. Entgegen rein messenden Beurteilungen und Verfahren bietet sich mit komPASS³ die Möglichkeit, die subjektiven Sichtweisen und Erfahrungen junger Zugewanderter zu berücksichtigen.
komPASS³ wurde im Rahmen der Durchführung an Berufsbildenden Schulen in Niedersachsen durch das Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung der Leibniz-Universität-Hannover (IfBE) evaluiert. Der Evaluierungsbericht wurde durch das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) veröffentlicht.
Kombinierte Kompetenzfeststellung und Berufsfelderprobung
An brandenburgischen Oberstufenzentren werden in Integrationsklassen praktische Kompetenzfeststellungen während der Durchführung der Werkstatttage vorgenommen. Dieses Vorgehen ermöglicht die Beobachtung von Kompetenzen im Arbeitsprozess und erfordert keine gesonderte Potenzialanalyse.
Die Schülerinnen und Schüler arbeiten an Arbeitsaufträgen in vier unterschiedlichen Berufsfeldern (Werkstatttage) und werden von geschultem Personal hinsichtlich ihrer methodischen, personalen, sozialen und fachlichen Kompetenzen beobachtet. In dieser praktischen Kompetenzfeststellung können somit Kompetenzmerkmale aus allen vier Bereichen nach vorher festgelegten Kriterien beleuchtet werden.
Am Ende der Werkstatttage erfolgt eine Einschätzung des Arbeitsproduktes in jedem Berufsfeld, um Rückschlüsse auf Kompetenzen, wie zum Beispiel Feinmotorik oder Geschicklichkeit, zu ziehen. Alle Einschätzungen werden schriftlich dokumentiert und in Einzelgesprächen mit den Teilnehmenden individuell erörtert.
Die praktische Kompetenzfeststellung hat zwei vorrangige Ziele: Selbstreflexion und Eigenständigkeit fördern. Sie ermöglicht das Ableiten von Entwicklungschancen und -zielen und unterstützt eine kompetenzgeleitete Berufsfeldwahl im weiteren Schulverlauf.
Computergestützte Verfahren
Computergestützte Verfahren nutzen technische Hilfsmittel, um Tests durchzuführen und Informationen zu erheben. Diese Methode kann dazu dienen, den Lernstand etwa für Deutsch, Mathematik oder Englisch festzustellen. Sie wird zum Beispiel dazu verwendet, kognitive Fähigkeiten oder berufliche Interessen herauszufinden. Die Ergebnisse werden automatisch erstellt und ausgewertet. Computergestützte Module können auch in handlungsorientierten Verfahren (wie zum Beispiel Profil Match) enthalten sein.
2 P - Potenzial & Perspektive
Die Eingangsdiagnostik nach dem Verfahren 2P | Potenzial & Perspektive – ein Analyseverfahren für neu Zugewanderte wird bei Eintritt in das Schulsystem durch Lehrkräfte in Integrationsklassen angewendet. Es wurde im Rahmen der Initiative Bildungsketten im Land Baden-Württemberg entwickelt. Das Land Rheinland-Pfalz nutzt Module des Verfahrens zur Diagnostik als Basis für das Projekt 2P plus für neu Zugewanderte.
2P umfasst die Bausteine Lernstand Deutsch, Lernstand Englisch, Lernstand Mathematik, kognitive Basiskompetenz und methodische Kompetenz sowie einen Berufsinteressentest und erfasst bildungsbiografische Informationen.
Die Bausteine sind zum Teil altersspezifisch und wiederholbar mit verschiedenen Versionen, um Lernfortschritte erfassen zu können. Die Durchführung jedes Bausteins am Computer dauert etwa 45 Minuten. Die Bausteine können unabhängig voneinander eingesetzt werden, das heißt, die Lehrkraft entscheidet, welcher Baustein bei welchem Jugendlichen zum Einsatz kommt. Die Ergebnisse werden dann mit den Schülerinnen und Schüler besprochen. Auf dieser Grundlage wird entschieden, welche weitere Förderung benötigt wird.
2P ist sprachreduziert und für Schülerinnen und Schüler ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen entwickelt worden. Das Verfahren findet deswegen vor allem in den Integrationsklassen Anwendung.
Weitere Informationen
Kultusministerium Baden-Württemberg: 2P Potenzial & Perspektive